Für Menschen mit schweren Behinderungen ist es oft eher die Ausnahme, dass sie selbstständig in einer eigenen Wohnung leben können. Um das zu ändern, hat der Landschaftsverband Westfalen-Lippe ein Programm für selbstständiges, technikunterstütztes Wohnen im Quartier ausgeschrieben (SeWo-Programm), das mit zehn Millionen Euro besonders gelungene Konzepte in der Region fördert.
Dadurch werden an verschiedenen Standorte in Westfalen-Lippe Wohnprojekte entwickelt und durch die SeWo gebaut, die gemeinsam mit den künftigen Mieterinnen und Mietern und in enger Zusammenarbeit mit den Menschen in direkter Nachbarschaft der Projekte umgesetzt werden. Die Wohnprojekte entstehen in ganz unterschiedlichen Quartieren und mit vielfältigen Zielgruppen und Kooperationspartnern – und genauso bunt und verschieden sind auch die Ansätze und Konzepte.
Neben einer passenden baulichen Gestaltung gibt es zwei weitere wichtige Anforderungen: Die Mieterinnen und Mieter sollen passend zu ihren Bedürfnissen im Wohnalltag mit Technik unterstützt werden und zugleich gut in die Quartiere und Gemeindestrukturen einbezogen sein.
Im Mittelpunkt des Programms steht aber noch weit mehr als nur der Bau der Häuser und Wohnungen. Die Selbstständiges Wohnen gGmbH, die das Programm für den LWL umsetzt, versteht dieses zugleich als Ideenschmiede für das Thema Inklusives Wohnen im Allgemeinen: Sie will gemeinsam mit den Projektträgern und mit Wissenschaftlern Know-how zum Thema sammeln, bündeln, öffentlich diskutieren und auswerten. Auch die Anpassung der Rahmenbedingungen für das Wohnen von Menschen mit Behinderungen, basierend auf den Anforderungen der UN-Behindertenrechtskonvention und des Bundesteilhabegesetzes, ist ein Ziel der Arbeit der SeWo. Am Ende sollen daraus Best-Practice-Beispiele entstehen, damit auch künftige inklusive Wohnprojekte davon profitieren und Menschen mit Behinderung selbstverständlich inmitten der Gesellschaft leben und teilhaben können.
Nicht nur wohnen, sondern leben – mitten im Quartier
Zu einem selbstständigen Leben gehört viel mehr als nur ein Dach über dem Kopf – zum Beispiel das Wohnviertel, das jeder Mensch ebenso selbstverständlich betreten können möchte wie das eigene Badezimmer. Für Menschen mit schweren Behinderungen ist aber genau das schwierig. Das hat mehrere Gründe, die oft nicht am Handicap, sondern an den Bedingungen im Viertel liegen. Viele Geschäfte, Restaurants, Gemeindezentren oder Parks sind nicht barrierefrei – und Freizeit- und Kultur-Angebote passen nicht zu den Bedürfnissen der Menschen mit Behinderungen. Dazu kommt, dass diese in der Regel ein vergleichsweise kleines soziales Netzwerk haben.
Einer der Schwerpunkte des SeWo-Programms ist deshalb das Thema Quartier. Die Umgebung der geplanten Wohnhäuser muss in den Projekten von Anfang an mitgedacht, einbezogen und an so vielen Stellen wie möglich beeinflusst werden. Dabei helfen so genannte Quartiers- oder Teilhabegestalter, die von den Trägern für diese Arbeit eingestellt werden. Sie sollen dabei unterstützen, die künftigen Mieterinnen und Mieter frühzeitig in die Nachbarschaft am Wohnort einzubeziehen – und natürlich auch andersherum. Nur, wenn das Wohnumfeld und die darin vorhandenen Angebote offen und barrierefrei zugänglich sind und viele Möglichkeiten zur Begegnung geschaffen werden, können die Mieterinnen und Mieter der Wohnprojekte ein wirklich selbstständiges Leben führen.
Kleine Helfer im Alltag: Unterstützung durch Technik
In den meisten Wohnungen kommen Menschen mit schweren Behinderungen nicht alleine zurecht. Wenn zum Beispiel eine Mieterin mit Rollstuhl allein in einem nicht barrierefrei ausgebauten Apartment leben möchte, werden für sie schon kleine Hindernisse zu großen Hürden im Alltag: Sie kann nicht alleine die Toilette besuchen, weil die Tür zu schmal und das Bad zu klein ist. Die Wohnungstür kann sie nur dann öffnen, wenn sie dorthin fährt. Und den Balkon kann sie gar nicht nutzen, weil die Schwelle zu hoch ist.
Für viele dieser Alltagshindernisse sind technische Hilfsmittel eine gute Lösung – für Menschen mit verschiedenen Behinderungen genauso wie für ältere Menschen mit körperlichen Einschränkungen. In der Fachsprache heißt dieser Ansatz „Ambient/Active Assisted Living“ (kurz AAL), übersetzt: selbstbestimmtes Wohnen durch innovative Assistenzsysteme. Dieses Konzept ist ein weiterer zentraler Aspekt des SeWo-Programms. Die ausgewählten Wohnprojekte setzen auf neue Technologien wie moderne Haus-Automations- und Gebäudetechniken, auf Schnittstellen für Rufsysteme.
Wichtig ist, dass diese technischen Hilfsmittel möglichst wenig komplex und dabei sehr leistungsfähig sind. Sie müssen von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen einfach bedient werden können und dürfen zugleich nicht zu teuer in der Anschaffung, Installation und Wartung sein. Und: Die technische Unterstützung soll mit dazu beitragen, dass die Mieterinnen und Mieter sich sicher in ihren vier Wänden fühlen können. Einfach bedienbare Rufsysteme können für schnelle Unterstützung sorgen, wenn die Personen Assistenz benötigen.
Wohnprojekte in ganz Westfalen-Lippe
Aus dem Ideenwettbewerb, der im Jahr 2017 startete, wurden Anfang 2018 mehrere Wohnprojekte ausgewählt. Diese ermöglichen jeweils zehn bis 12 Menschen mit wesentlichen Behinderungen den Weg in die eigenen vier Wände.
Die rund 130 Wohnungen sind in den Orten Bad Driburg, Bochum, Dortmund, Hagen, Hamm, Lippstadt-Dedinghausen, Lübbecke, Münster, Paderborn, Sassenberg und Selm geplant und teilweise bereits schon umgesetzt. Bis Ende 2022 hat das Institut für Teilhabeforschung der Katholischen Hochschule NRW in Münster (KatHO NRW) die Entwicklungen wissenschaftlich begleitet und ausgewertet. Das gesammelte Wissen wird ab Juli 2023 in einem Evaluationsbericht zur Verfügung gestellt.
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