Sie wol­len woh­nen wie ande­re auch“

Porträtfoto von Monika Seifert

Foto: Thilo Schmülgen/Aktion Mensch

Prof. Dr. Moni­ka Sei­fert forscht seit Jah­ren zum The­ma „Woh­nen für Men­schen mit Behin­de­rung“. Im Inter­view blickt sie auf die Chan­cen und Her­aus­for­de­run­gen, die das Bun­des­teil­ha­be­ge­setz mit sich bringt.


Frau Seifert, Sie befassen sich schon seit vielen Jahren wissenschaftlich mit Menschen mit höherem Unterstützungsbedarf. Wie möchten Menschen mit schweren Behinderungen wohnen und leben?

Auf einen Nenner gebracht: Sie wollen wohnen wie andere auch. Das haben Befragungen in den vergangenen 15 Jahren in verschiedenen Bundesländern deutlich gezeigt. Ein großer Teil der Menschen mit höherem Unterstützungsbedarf, die gegenwärtig in Einrichtungen oder noch im Elternhaus leben und ihre Vorstellungen artikulieren können, möchte anders wohnen als jetzt: in einer eigenen Wohnung, allein oder mit Freundin oder Freund, Partnerin oder Partner, mit der individuell gewünschten Unterstützung, in einem Umfeld mit einer guten Infrastruktur, mit sozialen Beziehungen, in einer Nachbarschaft, in der sie sich willkommen fühlen.

In einigen Studien wurden Eltern von Menschen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf, die noch zuhause leben und nicht selbst Auskunft geben können, in die Befragungen einbezogen. Ihre Wohnvorstellungen für ihre Söhne und Töchter unterscheiden sich teilweise von den Wünschen der befragten Menschen mit Behinderung: Ein Drittel der befragten Eltern betrachtet das Wohnen im Elternhaus als ideale Zukunftsperspektive. Bei einem Auszug hat das Wohnen in Gemeinschaft Priorität, z. B. in Wohngemeinschaften. Dem Leben in einer eigenen Wohnung stehen viele Eltern zunächst eher skeptisch gegenüber – auch weil es bundesweit noch zu wenige Beispiele gibt, wie dies auch bei höherem Unterstützungsbedarf gelingen kann.

Sie haben bereits Anfang der 90er das Projekt WISTA (Wohnen im Stadtteil für Erwachsene mit schwerer geistiger Behinderung) begleitet. Was waren damals die wesentlichen Herausforderungen und Ergebnisse?

Das Projekt hat damals in Berlin eine Gruppe von Eltern initiiert, deren Söhne und Töchter mit schwerer geistiger und mehrfacher Behinderung und herausfordernden Verhaltensweisen eine Tagesförderstätte besuchten. Zu einer Zeit, als noch niemand von Inklusion oder Sozialraumorientierung sprach, entstanden in zwei neu errichteten Wohnanlagen des Sozialen Wohnungsbaus vier Wohngruppen für Menschen, die damals üblicherweise in Großeinrichtungen „untergebracht“ waren. Unter dem Motto „Generationenwohnen“ lebten junge und alte Menschen, Alleinstehende und Familien, Erwerbstätige und Arbeitslose, Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit Behinderung in den Wohnanlagen zusammen, in mehreren Häuserriegeln mit gemeinschaftlichen Grünflächen, Begegnungs- und Spielmöglichkeiten und guten infrastrukturellen Bedingungen im Umfeld.

Unser Forschungsteam hat die stadtteilintegrierten Wohngruppen (teils nach Behinderung homogene, teils heterogene Zusammensetzung) mehr als sechs Jahre lang wissenschaftlich begleitet. Schwerpunkt unserer Untersuchungen waren das Wohlbefinden und die Entwicklung der Bewohnerinnen und Bewohner in der neuen Wohnsituation und ihre Aktivitäten im Sozialraum. Darüber hinaus wurden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu ihrer Arbeitssituation und zu den spezifischen Anforderungen befragt, die an die Begleitung des Personenkreises beim gemeindeintegrierten Wohnen gestellt werden. Auch die Mieterschaft und Dienstleister in der Umgebung wurden in Befragungen einbezogen. Zudem wurden Ablöseprozesse zwischen Eltern und ihren schwerbehinderten Töchtern und Söhne analysiert.

Können wir diese Erfahrungen auf das SeWo-Programm übertragen?

Im Zusammenhang mit dem Quartiersschwerpunkt des SeWo-Projekts sind die Mieterinnen- und Mieterbefragungen von besonderem Interesse: Wie erleben sie ihre Nachbarinnen und Nachbarn mit schweren Beeinträchtigungen, einen Personenkreis, dem sie zuvor noch nie begegnet sind? Wie gelingt das nachbarschaftliche Zusammenleben?
Die Erfahrungen waren sehr unterschiedlich. In einer der beiden Wohnanlagen entwickelte sich durch Informationen zum Wohnalltag der behinderten Bewohnerinnen und Bewohner und ihrer Aktivitäten auf dem Gelände sowie durch die bewusste Kontaktaufnahme mit ihnen von Anfang an ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis. Die Mieterinnen und Mieter zeigten sich offen und zugewandt, gegenseitige Hilfeleistungen wurden zunehmend selbstverständlich. In der anderen, deutlich größeren Wohnanlage gab es insbesondere in der Anfangszeit Schwierigkeiten. Sie waren bedingt durch strukturelle Bedingungen, z. B. den hohen Anteil von Menschen in schwierigen Lebenslagen, die eine Vielzahl eigener Probleme zu bewältigen haben, aber auch durch Konflikte zwischen Mieterinnen und Mietern mit den Wohngruppen, etwa wegen Lärmbelästigung durch die Bewohnerinnen und Bewohner, die aufgrund ihrer Beeinträchtigungen manchmal laut agierten.

Trotz der Probleme ließ ein großer Teil der Befragten eine grundsätzliche Bereitschaft erkennen, sich auf die Herausforderungen des Zusammenlebens einzulassen. Einige wünschen dabei Unterstützung, z. B. durch Gespräche über Ängste und Unsicherheiten, und mehr Informations- und Aufklärungsangebote. Die meisten Befragten bewerteten das integrierte Wohnen von Menschen mit Behinderung als grundsätzlich positiv. Das gegenseitige Kennenlernen im Alltag mindere Ängste. Für Kinder bedeute das Zusammenleben Normalität; bei Jugendlichen werde diskriminierenden Verhaltensweisen vorgebeugt.

Was muss getan werden, um diese Ziele zu erreichen?

Die Studie kommt zu dem Schluss, dass nur die konkrete Teilhabe dieses Personenkreises am sogenannten normalen Leben jene Lernprozesse bewirken kann, die ihn und andere für die „Normalität“ befähigen. Indem Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf sozial geachtete Rollen im Quartier übernehmen (z. B. als Mieterin oder Mieter einer Wohnung, als Nachbarin oder Nachbar, als Kundin oder Kunde im Supermarkt, als Besucherin oder Besucher öffentlicher Veranstaltungen), wird das Gemeinsame von Menschen mit und ohne Behinderung wahrnehmbar, trotz aller Unterschiede.

Deutlich wurde auch, dass soziale Inklusion kein einseitiger Akt der Eingliederung und Anpassung an das Bestehende ist. Beide Seiten – Menschen mit und ohne Behinderung – müssen sich mit den Bedürfnissen und Lebenswirklichkeiten der jeweils anderen auseinandersetzen und sich in einer dynamischen Balance zwischen Annäherung und Abgrenzung aufeinander zubewegen. In diesem Prozess spielt die Unterstützung durch soziale Netzwerke eine wichtige Rolle: Ohne Netzwerke gerät eine kleine Einrichtung in die Gefahr der Isolation.

Die unterschiedlichen Verläufe in den von uns begleiteten Projekten machten sichtbar, dass eine „gute“ Nachbarschaft nicht planbar ist. Planbar sind aber sozialräumliche Voraussetzungen, die eine bestmögliche Passung zwischen individuellen Bedürfnissen und Interessen aller Beteiligten und den Umfeldbedingungen in Aussicht stellen und die Entwicklung von befriedigenden Nachbarschaftsverhältnissen unterstützen.

Wie kann das umgesetzt werden?

Vielen Problemen kann vorgebeugt werden, angefangen bei der Planung der baulichen Gegebenheiten und der bedürfnisorientierten Gestaltung des Wohnbereichs. Hier kann auf Erfahrungen in bestehenden Projekten und auf Erkenntnisse der Ökopsychologie zurückgegriffen werden, z. B. hinsichtlich eines ausgewogenen Verhältnisses von Nähe und Distanz zur Nachbarschaft (etwa durch halböffentliche Übergangszonen und Zwischenbereiche).

Eine sozial ausgewogene Mieter- bzw. Nachbarschaftsstruktur bietet größere Chancen zum Gelingen inklusiver Projekte mit schwer behinderten Menschen als eine von eigenen Problemen belastete Nachbarschaft.
Gleichermaßen bedeutsam sind Kommunikationsstrukturen, die den Nachbarinnen und Nachbarn Raum geben, Probleme anzusprechen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen, wie z. B. ein Siedlungsmanagement, das die Belange aller Mieterinnen und Mieter bzw. Anwohnerinnen und Anwohner im Blick hat und Nachbarschaft fördernde Aktivitäten initiiert. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wohngruppen müssen für den Umgang mit der Nachbarschaft und mit Menschen im weiteren Umfeld qualifiziert werden. Ihre Arbeit geschieht unter den Augen der Öffentlichkeit.

Nach Behinderungsart heterogene Gruppen finden leichter Anschluss an die Nachbarschaft als Gruppen mit ausschließlich schwer beeinträchtigten Menschen, die nicht verbalsprachlich kommunizieren können. Schließlich hat das Projekt WISTA gezeigt, wie wichtig eine gute Zusammenarbeit mit Eltern bzw. Angehörigen ist, im Prozess der Ablösung und darüber hinaus.

Seitdem ist viel passiert – wie beurteilen Sie die „Ambulantisierungsstrategien“ und den vielzitierten Paradigmenwechsel der letzten Jahre?

Der Paradigmenwechsel von der institutionellen zur personalen Orientierung hat viele Impulse gegeben, scheinbar Selbstverständliches in Frage zu stellen und neue Wege für ein selbstbestimmtes Leben zu gehen. Die in den vergangenen Jahren bundesweit zunehmenden Ambulantisierungsprozesse haben inzwischen vielen Menschen mit Beeinträchtigungen ein Leben inmitten der Gesellschaft ermöglicht. Sie sind aber nicht frei von fiskalischen Überlegungen, durch neue Strategien der Leistungsgewährung Einspareffekte zu erzielen – mit der Konsequenz, dass Menschen mit höherem und spezifischem Unterstützungsbedarf in vielen Bundesländern kaum von der Ambulantisierung profitierten. Der überwiegende Teil dieser Personengruppe lebt nach wie vor in Heimstrukturen.

Lange haben wir in den Kategorien „ambulant“ und „stationär“ gedacht – mit dem Bundesteilhabegesetz verabschieden wir uns davon. Was bringt die Zukunft im Hinblick auf das Wohnen? Wie schätzen Sie die Veränderungen durch das BTHG ein?

Zunächst zu einigen positiven Aspekten. Das BTHG stärkt die Position der Leistungsberechtigten. Beispiele sind die aktive Beteiligung an Bedarfsermittlungsverfahren, das Angebot ergänzender unabhängiger Beratungsstellen, bedarfsorientierte Assistenzleistungen und die Berücksichtigung der persönlichen Vorstellungen von einem „guten Leben“ bei der Gestaltung des Unterstützungssettings. Die Umsetzung der persönlichen Vorstellungen wird durch die Abschaffung der Kategorien „ambulant“ und „stationär“ erleichtert. Individuell gestaltetes Wohnen kann nun auch für viele Menschen, die bislang auf stationäre Angebote angewiesen waren, Wirklichkeit werden.

Hinzugekommen ist die Verknüpfung personenzentrierter Leistungen mit der Sozialraumorientierung. In § 76 SGB IX des Sozialgesetzbuchs ist der Auftrag der Leistungen zur Teilhabe klar formuliert: Die Leistungsberechtigten sind zu einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung im eigenen Wohnraum sowie in ihrem Sozialraum zu befähigen oder dabei zu unterstützen. Allerdings wird im Bundesteilhabegesetz (BTHG) nicht genauer definiert, was Sozialraumorientierung bei der Leistungserbringung konkret bedeutet und wie z. B. fallübergreifende und fallunspezifische Arbeit, die den Boden für die Teilhabe am Leben im Quartier bereitet, finanziert werden kann.

Wo liegen die Probleme?

Problematisch ist, dass auch im neuen Gesetz Ausschlusskriterien enthalten sind, die die selbstbestimmte Lebensführung inmitten der Gesellschaft einschränken. Sie treffen insbesondere Menschen mit schweren Beeinträchtigungen, die in nahezu allen Lebensbereichen auf Unterstützung angewiesen sind: bei der Bewältigung des Alltags, im kommunikativen, meist nonverbalen Austausch, im persönlichen Empowerment-Prozess, beim Aufbau und Erhalt sozialer Beziehungen, bei der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und bei der Wahrnehmung der eigenen Interessen und geltender Rechte.

Eine qualifizierte Assistenz ist bei kompensierenden und begleitenden Assistenzleistungen, die bei Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf hohe fachliche Kompetenz erfordern (z. B. bei nonverbaler Kommunikation oder herausfordernden Verhaltensweisen) nicht gesichert.

Durch den nach wie vor bestehenden Mehrkostenvorbehalt (§ 104 Abs. 2 SGB IX n.F.) gibt es für die meisten Menschen mit schweren Beeinträchtigungen keine individuelle Alternative zu „besonderen Wohnformen“.

Die Schnittstellenproblematik zwischen Eingliederungshilfe und Pflegeversicherung ist weiterhin ungeklärt. Die in einzelnen Elementen teilhabeorientierte Ausrichtung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs erschwert die Abgrenzung und birgt die Gefahr, vor allem bei Menschen mit sog. geistiger Behinderung und komplexem Unterstützungsbedarf, Teilhabeleistungen ins Pflegesystem zu verschieben (SGB XI oder SGB XII Hilfe zur Pflege).

Sorge bereitet weiterhin die Ankündigung, dass die einrichtungsbezogene Pauschalleistung der Pflegeversicherung künftig auch auf gemeinschaftliche Wohnformen in ambulant unterstützten Settings übertragen wird (§ 43a SGB XI i. V. mit § 71 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI). Eine solche Leistungsminderung wird insbesondere pflegebedürftige Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf treffen, die zur Zeit in gemeinwesenbasierten Wohnformen die vollen Leistungen der Pflegeversicherung und der Eingliederungshilfe gleichrangig nebeneinander erhalten, und die Weiterentwicklung personen- und sozialraumorientierter Wohnangebote für diesen Personenkreis hemmen. Bei hohem Pflegebedarf besteht zudem das Risiko, auf Pflegeeinrichtungen verwiesen zu werden (§ 103 Abs. 1 SGB IX n.F.).

Was wir brauchen, ist ein Bewusstseinswandel bei Verantwortungsträgerinnen und -träger in Politik, Verwaltung und Praxis, der Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf als Bürgerinnen und Bürger im Gemeinwesen anerkennt und die notwendigen Ressourcen für ein Leben inmitten der Gesellschaft gewährleistet.

Mit dem SeWo-Programm ermöglichen wir Menschen mit höherem Unterstützungsbedarf, die man bislang eher auf stationäre Wohnangebote verwiesen hat, das selbstständige Leben in der eigenen Wohnung. Für viele der angehenden Mieterinnen und Mieter ist das Leben mitten im Quartier noch ziemliches Neuland – welche Ressourcen und welche Stolpersteine können wir Ihrer Meinung nach im Sozialraum, im Quartier, in der Nachbarschaft erwarten?

Um den künftigen Mieterinnen und Mietern das Leben mitten im Quartier zu erleichtern, ist es sinnvoll, sie von Anfang an in die Vorbereitungen des Wohnprojekts einzubeziehen und sie mit dem Umfeld vertraut zu machen, z. B. durch gemeinsame Erkundungen in der neuen Umgebung. Die Ergebnisse können – auf jeweils individuelle Weise – durch Fotos oder Symbole auf Karten visualisiert werden: Wo kann ich einkaufen? Wo treffe ich nette Leute? Was kann ich in der Freizeit tun?

Auch für die Mitarbeiterinnen und Mieter bringt das Wohnen mittendrin neue Herausforderungen. Ihre Arbeit beschränkt sich nicht auf die individuelle Unterstützung der Frauen und Männer. Erforderlich sind sozialraumbezogene Kompetenzen, damit sie als „Brückenbauer“ in das Quartier wirksam werden können – durch Kooperation und Vernetzung mit Akteurinnen und Akteuren jenseits der Behindertenhilfe, durch die Erschließung von Freizeit-, Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten sowie durch Beratung und Unterstützung der am Netzwerk beteiligten Personen – im Sinne von enabling community. Das Fachkonzept Sozialraumorientierung gibt vielfältige Impulse.

Viele Potenziale für neue Kontakte bieten Orte, die für alle offen sind, wie Stadtteilzentren, Nachbarschaftshäuser, Mehrgenerationenhäuser, Kirchengemeinden oder Vereine. Hier müssen gemeinsame Interessen zwischen Menschen mit und ohne Behinderung herausgefunden werden, die zu gemeinsamen Aktivitäten führen können. So kann das Gefühl der Zugehörigkeit entstehen. Von besonderer Bedeutung sind freiwillig Engagierte. Sie können „Türöffner in die Gemeinde“ sein, indem sie Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf im Quartier begleiten, Kontakte knüpfen und so zum Abbau von Vorurteilen beitragen.

Nicht zuletzt sind Aktivitäten behinderter Menschen für die Gemeinschaft zu nennen, z. B. Entsorgung von Altpapier für ältere Nachbarinnen und Nachbarn oder Herstellung und Verkauf von Smoothies bei Veranstaltungen in der Nachbarschaft. Sie demonstrieren, dass Menschen mit schweren Behinderungen nicht nur Hilfen benötigen, sondern auch Unterstützung für andere geben und allgemein geschätzte Güter herstellen können.

Von besonderer Bedeutung für das individuelle Wohlbefinden im Quartier ist das nachbarschaftliche Zusammenleben. Hier dürfen nicht zu hohe Erwartungen gehegt werden. Es hängt jeweils von den Bedürfnissen, Einstellungen und Ressourcen und den sozialen Milieus der Menschen ab, die in räumlicher Nähe wohnen. Nachbarn sind in der Regel nicht frei wählbar, nachbarschaftliche Kontakte nicht selbstverständlich. Das Spektrum reicht von Grußbeziehungen und gelegentlicher gegenseitiger Unterstützung bis zu gemeinsamen Aktivitäten, Freundschaften und Bekanntschaften. Oftmals funktioniert das Miteinander nicht so, wie wir es uns wünschen. Unterschiedliche Ansprüche und Erwartungen führen zu Spannungen. Nach Ergebnissen einer neueren repräsentativen Studie in deutschen Großstädten (2017) ist ein gelingendes nachbarschaftliches Zusammenleben eher Utopie statt Wirklichkeit. Fast 40 % kennen ihre Nachbarn kaum; rund ein Viertel hat weniger als einmal pro Woche Kontakt mit einem Nachbarn; jeder vierte Großstadtbewohner wünscht sich mehr Kontakt mit Nachbarn.

Grundlegende Voraussetzung für ein gelingendes Zusammenleben im Quartier ist die Sensibilisierung der Bevölkerung für die Rechte und Bedürfnisse von Menschen mit schweren Beeinträchtigungen. Durch alltägliche Begegnungen kommen sich Menschen näher. Räume der Begegnung sind bislang jedoch kaum realisiert – ein Sachverhalt, der negative Einstellungen befördern und Ausgrenzung verstärken kann. Umso dringender ist es, Konzepte und Projekte zu entwickeln, die das Zusammenleben fördern, das Zugehörigkeitsgefühl von Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf stärken und Möglichkeiten zur aktiven Beteiligung eröffnen.

Das Zusammenleben kann gelingen, wenn Inklusion und Partizipation im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention politisch wirklich gewollt sind, wenn in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung quartiersbezogenes Denken handlungsleitend ist, wenn Bündnispartnerinnen und -partner gewonnen werden und – last but not least – wenn notwendige Ressourcen zur Umsetzung zur Verfügung stehen, strukturell, personell, finanziell.

Welche Hoffnungen und Erwartungen (Befürchtungen?) verknüpfen Sie mit dem SeWo-Programm? Was sehen sie positiv, welche Herausforderungen werden dort noch nicht aufgegriffen?

Es ist sehr begrüßenswert, dass das SeWo-Programm sich an Menschen richtet, die wegen ihres erhöhten Unterstützungsbedarfs traditionell auf den stationären Bereich angewiesen sind, und deren wohnbezogene Vorstellungen weitgehend berücksichtigt. So kann der vielfach noch wirksame Mechanismus der Wohnformzuweisung nach Grad der Selbstständigkeit aufgebrochen und den Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention zu Inklusion und Partizipation Rechnung getragen werden.

Wesentlichen Anteil daran hat der Einbezug digitaler Technologien. Sie gewährleisten mehr Selbstbestimmung im Alltag. Die Heterogenität des Personenkreises erfordert kreative individuelle Lösungen, von denen weitere Projekte profitieren können. Wichtig ist, dass die künftigen Bewohnerinnen und Bewohner die technische Unterstützung mit planen können, damit ihre Bedürfnisse und Bedarfe weitestgehend berücksichtigt werden können. Allerdings sollte die Vielfalt der technischen Möglichkeiten nicht dazu führen, dass vorwiegend Mieterinnen und Mieter mit sogenannter Regiekompetenz die Chance erhalten, am SeWo-Programm teilzunehmen – also Menschen, die die digitale Technik aufgrund ihrer Fähigkeiten selbstbestimmt nutzen können. Auch darf die Art der technischen Vorrichtungen in einem Wohnhaus nicht zur Folge haben, dass die Apartments vorzugsweise für eine bestimmte Zielgruppe vorgesehen sind.

Ein guter Ansatz sind die von den beteiligten Trägern geforderten Konzepte zur Einbindung in das Quartier. Damit die Umsetzung gelingt, werden im Projekt Quartiers- und Teilhabegestalterinnen und -gestalter (QTG) finanziert, die mit lokalen Akteurinnen und Akteuren kooperieren und die Vernetzung vorantreiben. Die Verankerung eines QTGs im Projekt ist sehr zu begrüßen, darf aber nicht zur Folge haben, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die sozialraumorientierte Arbeit an diese Personen delegieren und sich nicht selbst dazu aufgerufen fühlen.

Grundsätzlich ist zu bedenken, dass das Wohnen von bis zu 15 Menschen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf unter einem Dach von Außenstehenden als „Heim“ wahrgenommen und die dort lebenden Menschen nicht primär als Nachbarinnen und Nachbarn sondern als „Heimbewohnerinnen und -bewohner* betrachtet werden könnten. Nur wenige der einbezogenen Projekte setzen auf eine Mischung von Mieterinnen und Mietern mit und ohne Behinderung. Hier hätte ich mir mehr strukturelle Vielfalt bei der Zusammensetzung der Mieterschaft als Voraussetzung für ein inklusives Zusammenleben gewünscht. Vorbilder dazu hat der LWL andernorts bereits geliefert.

Haben Sie Tipps für die 15 Wohnprojekte des SeWo-Programms und ihren Weg zum inklusiven Wohnen?

Die lokale Integration eines Wohnhauses für Menschen mit Behinderung in ein Quartier ist eine unabdingbare, aber nicht hinreichende Bedingung für inklusives Wohnen. Auf der individuellen Ebene erleichtert die digitale Technik eine selbstbestimmte Gestaltung des Alltags. Die persönliche Assistenz und der direkte Austausch mit den Unterstützerinnen und Unterstützern haben aber nach wie vor einen hohen Stellenwert, insbesondere bei Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen. Wo immer möglich, sollte die Technik die kommunikative Pflege von sozialen Beziehungen unterstützen, ohne direkte Kontakte mit Freundinnen und Freunden oder Arbeitskolleginnen und -kollegen zu reduzieren. Bei Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf, deren soziales Netzwerk in der Regel auf Angehörige und professionell Tätige begrenzt ist, gehört es zu den Aufgaben der Unterstützerinnen und Unterstützer, die Erweiterung der sozialen Kontakte zu fördern.

Auf der strukturellen Ebene ist das Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung unter einem Dach anzustreben, darunter auch Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf. Alle Beteiligten sollten die verbindliche Aufgabe haben, das nachbarschaftliche Zusammenleben zu fördern und Ressourcen und Teilhabepotenziale im Quartier zu erschließen. Das sollte auch im Qualitätsmanagement verankert werden. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind für sozialraumbezogene Arbeit zu qualifizieren.

Die Träger der Wohnprojekte sollten sich zudem nicht nur als Leistungserbringer für Menschen mit Behinderungen verstehen, sondern auch als Akteurinnen und Akteure im Quartier, die an lokalen Planungen und Entwicklungen beteiligt sind, Impulse für inklusive Prozesse geben und selbst aktiv werden, um Gelegenheiten für Begegnungen und gemeinsame Aktivitäten von Menschen mit ohne Behinderung zu schaffen.

Rundes Porträtfoto von Monika Seifert

Foto: Thilo Schmülgen/Aktion Mensch

Zur Person: Monika Seifert

Prof. Dr. Monika Seifert forschte und lehrte an Universitäten in Berlin und Köln im Fachgebiet Behindertenpädagogik/Heilpädagogik; zuletzt war sie Gastprofessorin an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin.

Die Arbeitsschwerpunkte der Diplom-Pädagogin sind die aktuellen Entwicklungen der Behindertenhilfe, insbesondere im Bereich des Wohnens und Lebens in der Gemeinde; Sozialraumorientierung; Lebensqualität; Lebenslagen von Menschen mit (schwerer) Behinderung und die Situation ihrer Familien. Sie setzte zahlreiche Forschungsprojekte und Veröffentlichungen zu den genannten Themen um, unter anderem die Kölner Lebensqualität-Studie in Heimen in NRW und die Berliner Kundenstudie zum Bedarf an Dienstleistungen zur Unterstützung des Wohnens von Menschen mit Behinderung sowie Begleitforschung zum Berliner Projekt WISTA (Wohnen im Stadtteil von Erwachsenen mit schwerer geistiger Behinderung).

Monika Seifert ist Vorstandsmitglied der Deutschen Heilpädagogischen Gesellschaft e.V. (DHG) und seit mehreren Jahren als Sozialwissenschaftlerin, Fachreferentin und Autorin freiberuflich tätig.