Ent­wick­lun­gen ansto­ßen und Ideen und inno­va­ti­ve Kon­zep­te umsetzen“

Porträt von Annette Schmidt

Bild: Schmidt (privat)

Annet­te Schmidt ist seit dem 1. Okto­ber 2019 neue SeWo-Geschäfts­füh­re­rin. Als Nach­fol­ge­rin von Micha­el Weders­ho­ven ist sie für die fach­li­che Aus­ge­stal­tung des Pro­gramms verantwortlich.


Frau Schmidt, was ist Ihnen wich­tig am SeWo-Programm?

Die Geschäfts­füh­rung der Selb­stän­di­ges Woh­nen gGmbH (SeWo) tei­le ich mir mit Bodo Stro­tot­te, der haupt­säch­lich für den kauf­män­ni­schen Ver­wal­tungs­be­reich ver­ant­wort­lich ist. Mein Schwer­punkt liegt in der fach­li­chen und inhalt­li­chen Arbeit. Ich habe die Auf­ga­be über­nom­men, um das aus mei­ner Sicht unge­mein posi­ti­ve und inno­va­ti­ve Kon­zept der SeWo mit vor­an­zu­trei­ben zu kön­nen. Gemein­sam mit dem Team arbei­ten wir krea­tiv an Lösungs­an­sät­zen, um für Men­schen mit beson­ders hohen Hil­fe­be­dar­fen Wohn­mög­lich­kei­ten zu schaf­fen, die ihnen mit moder­ner Tech­nik­un­ter­stüt­zung ein maxi­mal selbst­be­stimm­tes Leben ermöglichen.

Was heißt das genau?

Mit Hil­fe der SeWo kann an 15 Pro­jekt­stand­or­ten in West­fa­len-Lip­pe neu­er Wohn­raum für Men­schen ent­ste­hen, die bis­her auf sta­tio­nä­re Wohn­for­men ange­wie­sen waren. Mit ambu­lan­ter Unter­stüt­zung wird damit auch die­sem Per­so­nen­kreis zuneh­mend das Woh­nen in den eige­nen vier Wän­den ermög­licht. Zudem sol­len die­se Pro­jek­te als Leucht­turm­pro­jek­te ande­re Trä­ger der Behin­der­ten­hil­fe und aber auch die Woh­nungs­wirt­schaft ani­mie­ren, inno­va­ti­ve und zukunfts­fä­hi­ge Lösun­gen für das Woh­nen für Men­schen mit Behin­de­run­gen umzu­set­zen. In den Pro­jek­ten der SeWo wer­den mit der Tech­nik­un­ter­stüt­zung und der Ein­bin­dung in das Quar­tier zwei Schwer­punk­te gesetzt, die neben dem selbst­stän­di­gen Woh­nen auch die sozia­le Teil­ha­be unter­stüt­zen sollen.

Gibt es dafür schon Vorbilder?

Der LWL hat aus Mit­teln außer­halb des Sozi­al­haus­hal­tes zum zwei­ten Mal 10 Mil­lio­nen Euro bereit­ge­stellt, um modell­haft Kon­zep­te des selb­stän­di­gen Woh­nens für Men­schen mit hohen Hil­fe­be­dar­fen zu rea­li­sie­ren. Mit dem ers­ten 10-Mil­lio­nen-Pro­gramm sind wesent­li­che Grund­la­gen erar­bei­tet wor­den. Ins­be­son­de­re das Pro­jekt in Bochum Weit­mar zeigt bei­spiel­haft, was heu­te bereits mög­lich ist. Dar­an knüp­fen wir an, um mehr Men­schen Alter­na­ti­ven im Woh­nen bie­ten zu können.

Was sind Ihre Bezü­ge zum Woh­nen von Men­schen mit schwe­ren Behin­de­run­gen und wel­che aktu­el­len Her­aus­for­de­run­gen stel­len sich dabei?

Die Ein­füh­rung des Bun­des­teil­ha­be­ge­set­zes erfor­dert die Sicht auf den Unter­stüt­zungs­be­darf des Ein­zel­nen und die indi­vi­dua­li­sier­te Hil­fe­er­brin­gung. Der Blick auf die Ein­rich­tun­gen und die for­mel­len Ange­bo­te tritt dabei mehr zurück, was für die enorm viel­fäl­ti­gen, indi­vi­du­el­len Ansprü­che auf Hil­fe­be­dar­fe ins­ge­samt posi­tiv ist.

Um unter die­sen Vor­aus­set­zun­gen alle Mög­lich­kei­ten der indi­vi­du­el­len Unter­stüt­zung aus­zu­schöp­fen, braucht es eine Sozi­al­pla­nung, die Ein­glie­de­rungs­hil­fe, Gesund­heit, Bil­dung, Arbeit, Pfle­ge und Senio­ren­an­ge­bo­te mit ein­be­zieht, und eine gute Zusam­men­ar­beit aller Leistungsanbieter.

Wie sieht es mit den Ange­bo­ten außer­halb der Hil­fe­sys­te­me aus?

Um wirk­lich für alle Betei­lig­ten ein selbst­stän­di­ges Leben zu ermög­li­chen, bedarf es nicht nur der inklu­si­ven Gestal­tung der Beratungs‑, Freizeit‑, Bil­dungs- und Begeg­nungs­an­ge­bo­te. Auch der öffent­li­che Nah­ver­kehr, die Ver­kehrs­raum­ge­stal­tung und die bar­rie­re­freie Zugäng­lich­keit öffent­li­cher Räu­me müs­sen inklu­siv gedacht wer­den. Dies stellt alle Betei­lig­ten vor eine gro­ße Her­aus­for­de­rung, hier möch­te die SeWo inten­siv unter­stüt­zend aber auch bei­spiel­haft tätig werden.

Unter­stüt­zungs­leis­tun­gen wer­den mög­lichst sozi­al­raum­ori­en­tiert orga­ni­siert – Ange­bo­te der Bil­dungs­an­bie­ter vor Ort, der cari­ta­ti­ven Diens­te, der Alten­hil­fe, der Pfle­ge­an­bie­ter müs­sen genutzt und tech­ni­sche Ent­wick­lun­gen ein­be­zo­gen wer­den. Unter­stüt­zungs­leis­tun­gen wer­den zukünf­tig aus einem „Hil­fe-Mix“ bestehen. Für jede Per­son mit Behin­de­rung wer­den indi­vi­du­el­le Unter­stüt­zungs­set­tings gestaltet.

Beson­de­ren Wert legen wir dabei dar­auf, dass indi­vi­du­el­le sozia­le Netz­wer­ke mit einem Mix aus fami­liä­ren, freund­schaft­li­chen, nach­bar­schaft­li­chen, gesell­schaft­li­chen, ehren­amt­li­chen aber auch pro­fes­sio­nel­len Hil­fen geschaf­fen wer­den. Zudem wird das Selbst­hil­fe­po­ten­ti­al der Men­schen mit Behin­de­rung stär­ker als bis­her berück­sich­tigt werden.

In wel­chen For­men haben Sie bis­her mit Kom­mu­nen zusam­men­ge­ar­bei­tet, was ist dabei beson­ders wichtig?

Die lang­jäh­ri­ge Tätig­keit in einem Sozi­al­psych­ia­tri­schen Dienst einer Kom­mu­ne ermög­lich­te mir den Ein­blick in die Nöte und den Unter­stüt­zungs­be­darf der ein­zel­nen Per­son. Bei der Bera­tung der Kli­en­tin­nen und Kli­en­ten dort waren oft unter­schied­li­che Unter­stüt­zungs­leis­tun­gen erfor­der­lich. So erfolg­te bei­spiels­wei­se die Ver­mitt­lung in ein Ange­bot des ambu­lant betreu­ten Woh­nens, in die Schuld­ner­be­ra­tung sowie eine Ver­mitt­lung an die „Tafel“, um eine war­me Mahl­zeit zu erhal­ten. Zudem wur­de an man­chen Tagen die Unter­stüt­zung von Nach­barn erfor­der­lich, um den Hund Gas­si zu führen.

Ich habe außer­dem Lei­tung eine gro­ße sta­tio­nä­re Wohn­ein­rich­tung gelei­tet. Dort konn­te ich Erfah­run­gen sam­meln, wie das sta­tio­nä­ren und gemein­schaft­li­chen Woh­nen gesteu­ert, wei­ter­ent­wi­ckelt und finan­ziert wer­den. Das hat mei­ne wei­te­re Berufs­tä­tig­keit beeinflusst.

In einer der größ­ten Kom­mu­nen habe ich Pla­nungs­auf­ga­ben zu Ein­glie­de­rungs­hil­fe und Gesund­heits­the­men über­nom­men. Die Arbeit hat mir ver­deut­licht, wie not­wen­dig es ist, das alle Betei­lig­ten im gesam­ten Ver­sor­gungs­sys­tem der Men­schen mit Behin­de­rung ver­netzt wer­den und zusam­men­ar­bei­ten, ein­schließ­lich der Selbst­hil­fe sowie der Politik.

In den kom­mu­na­len Gre­mi­en und Kon­fe­ren­zen, an denen ich teil­nahm, arbei­te­te ich an den Schnitt­stel­len der unter­schied­li­chen Arbeits­be­rei­che Gesund­heit, Bil­dung, Arbeit, Erzie­hung und Sozia­les, die immer wie­der an die Ein­glie­de­rungs­hil­fe angrenz­ten. Die Fra­gen, die dabei auf­tra­ten, haben wir früh­zei­tig erkannt, the­ma­ti­siert und geeig­ne­te Lösun­gen gefun­den. Die Zusam­men­ar­beit mit über­ört­li­chen Kos­ten­trä­gern, Gesetz­ge­bern und Poli­tik gewann zuneh­mend an Bedeutung.

Die­se Erfah­run­gen möch­te ich im Rah­men mei­ner geschäfts­füh­ren­den Tätig­keit bei der SeWo nut­zen, um Ent­wick­lun­gen anzu­sto­ßen und bereits bestehen­de Ideen und inno­va­ti­ve Kon­zep­te umzusetzen.

Wel­che Bedin­gun­gen müs­sen in den kom­men­den Jah­ren erfüllt sein, damit die SeWo die Pro­jek­te erfolg­reich umset­zen kann?

Die vor­ge­se­he­nen Bau­pro­jek­te der SeWo erfor­dern eine Pla­nung auf län­ge­re Sicht. Um für Men­schen mit Behin­de­rung bezahl­ba­ren Wohn­raum schaf­fen zu kön­nen, müs­sen die Richt­li­ni­en der Woh­nungs­bau­för­de­rung ange­passt wer­den. Ers­te Schrit­te in die­se Rich­tung sind bereits in die­sem Jahr erfolgt. Damit das selbst­stän­di­ge Woh­nen zu ange­mes­se­nen Miet­prei­sen mög­lich wird, müs­sen Bau­grund­stü­cke zu fai­ren Prei­sen auch in zen­tra­ler Lage zur Ver­fü­gung ste­hen. Das ist lei­der noch nicht an allen vor­ge­se­he­nen Pro­jekt­stand­or­ten der Fall. Schließ­lich muss auch noch die tech­ni­sche und digi­ta­le Aus­stat­tung der Woh­nun­gen für die Bedürf­nis­sen der Mie­ter mit Behin­de­rung ent­wi­ckelt, ange­passt und umge­setzt werden.

Selbst­stän­di­ges Woh­nen erfor­dert dar­über­hin­aus eine Anbin­dung an den umge­ben­den Sozi­al­raum. Außer­dem müs­sen Inter­ak­tio­nen mit sozia­len Kon­tak­ten mög­lich sowie die sozia­len- und Frei­zeit­an­ge­bo­te vor Ort bekannt wer­den. Dafür müs­sen die Fach­kräf­te für die Quar­tiers- und Teil­ha­be­ge­stal­tung mit den Fach­kräf­ten, die die Leis­tung vor Ort erbrin­gen, nach­hal­tig und lang­fris­tig zusammenarbeiten.

Damit selbst­stän­di­ges Woh­nen funk­tio­niert, ist es nicht nur wich­tig, dass Geschäf­te oder Arzt­pra­xen in der Nähe sind – die Men­schen müs­sen sie auch wei­test­ge­hend selb­stän­dig errei­chen kön­nen. Dazu soll­ten tech­ni­sche und auch digi­ta­le Hilfs­mit­tel jeweils ange­passt an die spe­zi­el­len Bedürf­nis­se für Men­schen zum Bei­spiel mit einer geis­ti­gen Behin­de­rung zur Ver­fü­gung stehen.

Um den Bedürf­nis­sen einer älter wer­den­den Bevöl­ke­rung gerecht zu wer­den, müs­sen Unter­stüt­zungs­leis­tun­gen auch zuneh­mend an die Erfor­der­nis­se der älter wer­den­den Mie­te­rin­nen und Mie­ter mit Behin­de­rung und mit wach­sen­dem Pfle­ge­be­darf ange­passt sein.