Quar­tier ist da, wo das Herz wohnt“

Dr. Bettina Kruth in der Diskussion mit Seminarteilnehmerinnen.

Dr. Bettina Kruth (rechts). Foto: LWL.

Als Refe­ren­tin, Kurs­lei­te­rin und Koor­di­na­to­rin bil­det Dr. Bet­ti­na Kruth im ‚Netz­werk Sozia­les Neu Gestal­ten (SONG)‘ Quar­tiers­ent­wick­ler aus. Im Inter­view spricht die Mit­ar­bei­te­rin des Evan­ge­li­schen Johan­nes­werks gGmbH über die Chan­cen des Quar­tiers­ma­nage­ments und die Aus­bil­dung der Quartiersmanager.


Frau Dr. Kruth, Sie haben als Referentin bei der SeWo-Auftaktveranstaltung den Workshop „Quartiersentwicklung und Behindertenhilfe“ gestaltet – worum ging es dabei?

Im Workshop habe ich in einem Kurzvortrag das „Kleine Einmaleins“ der Quartierarbeit vorgestellt, und zwar anhand der Handlungsprinzipien „Sozialraumorientierung“, „Partizipation“, „Inklusion“ und „Welfare-Mix“ – also der sorgenden Gemeinschaft aus Staat, Wohlfahrt und Zivilgesellschaft. Anschließend haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Gruppen ihre Erfahrungen ausgetauscht, Fragen gestellt und Kritik geübt. Der Austausch drehte sich dann vor allem um die Frage: Wie fange ich an und wie gewinne ich – nachhaltig – die Menschen im Quartier?

Für Laien ist der Begriff „Quartier“ etwas sperrig. Können Sie in einfachen Worten erklären, was ein Quartier ist und worum es bei diesem Thema geht?

Der Fachbegriff Quartier ist tatsächlich ein Wort, das in der Alltagssprache eher fremd und schwierig klingt. Der Begriff ist aber erst einmal nur ein anderes Wort für „mein“ Stadtteil, Viertel, Kiez, Veddel oder Dorf beziehungsweise „meine“ Gemeinde oder Nachbarschaft. Gemeinsam ist diesen Beispielen, dass sie einen bestimmten physikalischen Raum beschreiben, der sich von anderen Quartieren abgrenzt. Damit verbunden ist aber nicht nur der geographische Raum mit seinen Besonderheiten, sondern auch dessen „Image“ und Geschichte. Das Quartier ist ein Ort der Begegnung und der sozialen Beziehungen, weswegen ich im Workshop auch die Betonung auf „mein“ Viertel gelegt habe. Letztlich definieren die Bewohner ihr Quartier und ihren Sozialraum selbst. Darum arbeiten wir in unseren Kursen, in denen wir Quartiersmanager ausbilden, auch nach dem Motto: „Quartier ist da, wo das Herz wohnt“, wie es auch der Psychiater Klaus Dörner in seinem Buch „Leben und Sterben, wo ich hingehöre“ beschrieben hat. Als Quartiersentwickler ist es wichtig, das zu verstehen. Denn nur dort, wo Menschen sich verbunden fühlen, möchten sie sich auch einbringen und Verantwortung für sich und andere übernehmen (Sorgende Gemeinschaft), zum Beispiel als bürgerschaftlich Engagierte, Dienstleister oder Kooperationspartner. Damit das funktioniert, brauchen wir eine neue Kultur des Miteinanders im Dorf, in der Gemeinde, in den Stadtteilen und Stadtvierteln. Für lebenswerte Quartiere ist das verantwortliche und solidarische Zusammenwirken aller gefordert: von Familien, Nachbarn, bürgerschaftlich Engagierten und professionellen Diensten.

Sie bereiten Fachkräfte auf deren künftige Arbeit im Quartier vor. Was muss man können, um dort zu arbeiten?

Ohne eine Qualifizierung, die ein Grundverständnis von Quartier, Sozialraum, Vernetzung und Partizipation herstellt, sind die nötigen Strukturen und Prozesse nicht umsetzbar, das zeigen auch die Erfahrungen. Deshalb hat das Netzwerk „SONG“ (SOziales Neu Gestalten) entsprechende Qualifizierungen entwickelt und erprobt, die Haltungen zum sozialräumlichen Perspektivwechsel und methodisches Handwerkszeug vermitteln –anwendungsbezogen, praxisnah und über das (Fach-)Wissen hinaus. Das Gelernte erproben und übertragen die Teilnehmenden der Qualifizierung „Qualifiziert fürs Quartier“ dann in einem begleiteten und gecoachten Praxisprojekt. Dabei ist es vollkommen unerheblich, von welchem Standort oder Startpunkt aus die Interessierten die Qualifizierung beginnen und ob sie aus der Altenhilfe oder Behindertenhilfe, der Wohnungswirtschaft oder einer Gemeinde kommen. Denn Quartiersentwicklung ist vor allem eine Haltungsfrage!

Wie genau werden Quartiersentwickler ausgebildet?

Sie erlangen zunächst theoretisches Grundlagenwissen zum Sozialraum, Inklusion, Partizipation und Welfare-Mix hinaus und sollten anschließend ressourcenorientiert arbeiten, Ist-Analysen anwenden und ein neues Rollenprofil entwickeln können. Weil Quartiersarbeit immer bedeutet, Prozesse zu initiieren und zu begleiten, ist es empfehlenswert, Projektmanagement, sozialraumorientierte Methoden, Transferoptionen und Partizipationsmethoden anwenden zu können, kommunikative und Moderationskompetenz zur Verfügung zu stellen und Sektoren konstruktiv miteinander vernetzen zu können.

Um diese fachlichen und methodischen Herausforderungen zu meistern, sind Zuversicht, Mut, neue Wege zu gehen, Beharrungsvermögen und Kreativität sehr wichtig. All das sind grundlegende, soziale Kompetenzen für die Arbeit im Quartier und ebenso hilfreich wie Empathie- oder Problemlösefähigkeit. Wenn Quartiersmanager erreichen wollen, dass die Menschen im Quartier partnerschaftlich leben und ein Interessensausgleich hergestellt wird, müssen sie das vorleben. Quartiersmanagement ist also eine Frage der Haltung.

Was hat das Quartier mit der Behindertenhilfe zu tun? Wieso ist das dort überhaupt ein Thema?

Alle Menschen – auch Menschen mit Unterstützungsbedarf – wohnen ja in einem Quartier und nicht unter einer „Käseglocke“. Die Quartiersarbeit ist ein gesellschaftliches Querschnittsthema, mit dem Ziel, inklusive Sozialräume mit hoher Lebensqualität für alle Bürgerinnen und Bürger zu gestalten. Die Behindertenhilfe kann im Quartier für alle Mieterinnen und Mieter der SeWo-Projekte mit ihren vielfältigen Ressourcen und Kompetenzen ein wichtiger Partner und Akteur sein. Und umgekehrt stellen der Sozialraum beziehungsweise das Quartier Potentiale und Ressourcen für Teilhabe, aber auch für die Teilgabe zur Verfügung – denn jeder Mensch kann und möchte etwas für die Gemeinschaft und das Quartier leisten. Mit der Behindertenrechtskonvention und den aktuellen normativen Entwicklungen, zum Beispiel dem Bundesteilhabegesetz, hat sich die Behindertenhilfe ins Quartier beziehungsweise in den inklusiven Sozialraum aufgemacht.

Für das SeWo-Programm gehen 15 Projekte an den Start. Welche Erwartungen, Befürchtungen oder Hoffnungen haben Sie?

Aller Anfang ist schwer. Aber: Die Chancen, die die Quartiersarbeit für Menschen mit und ohne Unterstützungsbedarf in den lokalen Lebensgemeinschaften bietet, sind bei näherer Betrachtung viel größer, als wenn es immer nur noch mehr des ewig Gleichen gibt. Am besten fängt man bei sich selbst an und fragt sich: Wie möchte ich in Zukunft leben und wohnen? Die gleiche Frage könnte auch an die Menschen vor Ort gestellt werden: Wie möchtet ihr zukünftig wohnen und leben? Und was seid ihr bereit, dafür zu tun?  Transformationsprozesse sind immer schwierig, schon allein deshalb, weil man sich dabei immer auf unbekanntes Terrain begibt und sich vielleicht zu viel vornimmt, also die Ziele zu hoch steckt.

Hoffnungsvoll bin ich für die 15 Projekte, weil ich den Elan und das Engagement bei der Auftaktveranstaltung gesehen habe – alle haben Lust darauf, die Projekte anzugehen. Auch das tolle, kompetente Team, das die 15 Projekte begleitet, trägt ganz sicher zum Gelingen bei. Für die Projektbegleiter wird es darauf ankommen, die gute, fallspezifische Ressourcenarbeit in der Behindertenhilfe – also die Arbeit für einen bestimmten Menschen – auch auf die fallunspezifische Quartiers- und Ressourcenarbeit anwenden zu können, das heißt, das Quartier weiterzuentwickeln, aber dennoch den Menschen weiterhin in den Mittelpunkt zu stellen. Ich rechne auch mit einer „positiven Ansteckungsgefahr“ in den Quartieren vor Ort, an den jeweiligen Standorten, zwischen den 15 Projekten und dem SeWo-Team.

Welche Tipps und Empfehlungen haben Sie für die 15 Projekte?

Da gibt es viele. Die Absolventen des Kurses „Qualifiziert fürs Quartier“ haben es bei ihrem ersten Alumni-Treffen so formuliert: „Offen für Neues sein, Netzwerke weiterknüpfen, sich über jeden freuen, der kommt, Mut zur Lücke haben, nicht aufgeben, alle Generationen berücksichtigen, Erwartungen einfangen, aussprechen, vertiefen, konkretisieren, kleinschrittig und niedrigschwellig vorgehen, Highlights schaffen.“ Ebenso wichtig ist es aber auch, Fortbildungen zu machen, sich coachen zu lassen und Tagungen sowie Alumnitreffen zu besuchen, sich also mit anderen Quartiersarbeitern vernetzen. Ich selbst würde auch noch Folgendes empfehlen: Beginnen Sie immer mit dem Einfachen und vertiefen Sie das, was sowieso schon gut läuft. Seien Sie mutig und kreativ, es darf auch mal etwas nicht gelingen. Vergessen Sie nicht, dass Sie mit Menschen arbeiten (nicht mit Funktionsträgern). Schaffen Sie für sich und Ihr Team kleine, schnelle Erfolge und feiern Sie diese als Meilensteine des Projektes. Sehen Sie Teilhabe und Partizipation nicht als Problem, sondern als Ressource und Beitrag zu Lösungen.

Das SeWo-Programm endet in vier Jahren. Was soll bis dahin erreicht worden sein, damit Sie sagen können: Der Weg ins Quartier war erfolgreich?

In Zielen zu denken, fällt den meisten von uns ziemlich schwer, besonders, wenn es so „smarte“ Ziele wie im Projektmanagement sein sollen – also spezifische, messbare, akzeptierte, realistische und terminierte Ziele. Wichtig ist auf jeden Fall, sich den Erfolg genau vorzustellen, also den Zustand, den man erreichen möchte. Ziele sind ja letztlich auch die Wirkungen, die man herstellen will. Malen Sie sich also gemeinsam und konkret das Quartier der Zukunft in allen Farben und Nuancen ganz intensiv aus. Wie werden in vier Jahren die Menschen zusammenleben? Welche neuen Begegnungsräume gibt es dann? Was sagen dann die Betroffenen über ihr Leben, ihren Wohnraum, ihre Freizeitmöglichkeiten? Was wird anders sein als heute?

Wenn Sie auf dem Weg zum Ziel zwischendurch Meilensteine einplanen und Erfolge definieren, wird es einfacher, den Prozess zu steuern und regelmäßig zu reflektieren. Damit erreichen Sie ihr Ziel oder die Ziele am Ende der vier Jahre und vielleicht noch viel mehr. Die Erfahrung der Quartiersentwickler zeigt, dass sich im Prozess ohnehin häufig ungeahnte und ungeplante Synergieeffekte, Gestaltungs- und Denkräume ergeben.

Nebenbei erwähnt: die Quartiersarbeit hört in vier Jahren ja nicht schlagartig auf. Denken Sie also auch über den Vierjahreszeitraum hinaus: Welche Ergebnisse und Strukturen braucht Ihre Projektarbeit, um nachhaltig zu sein? Das alles sind die wichtigen Fragen.

Foto: LWL

Dr. rer. soc. Bettina Kruth ist Referentin, Kursleiterin und Koordinatorin der von „SONG“ (Netzwerk Soziales Neu Gestalten) entwickelten Qualifizierung „Dienstleistungs- und Netzwerkmanagement“. Diese Fortbildung ist in der Abteilung ‚Schulen und Bildung in der Alten- und Behindertenhilfe‘ bei der Evangelisches Johanneswerk gGmbH angesiedelt. Bettina Kruth ist darüber hinaus auch Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Alters-Instituts und arbeitet als Evaluatorin bei Quartiersprojekten.